Der Taugenichts
Biografien im Kiel und Feder Verlag
Ich war noch niemals in New York. meine gesamte Biografie
Leseprobe:
Von meinem Vater fehlte jede Spur. Auch die Polizei wusste
nicht, wo er abgeblieben war. An einem kalten, windigen Februarwochenende holte
Mutter mich bei Frau Seitz ab und ging mit mir nach Hause. Wie jeden Tag
brachte sie meinen Bruder ins Bett. Ich war erkältet, die Schlafzimmer waren
nicht beheizbar. Sie wollte kein Risiko eingehen und schob den Stubenwagen, in
dem ich lag, ins Wohnzimmer. Dann legte sie sich aufs Sofa.
Mitten in der Nacht wachte sie auf. Da waren Geräusche,
leise Schritte. Jemand schlich ums Haus. War das ihr Vater? Aber das war nicht
möglich. Um diese Zeit befand er sich am Rande der Stadt, dort wo die großen
Fabriken lagen. Ihr Herz klopfte wie ein Hammer gegen ihre Brust. Plötzlich
klirrte es irgendwo. Glas zersplitterte. Eine Fensterscheibe war zerstört
worden. Sie rannte ins Schlafzimmer, trat in Scherben und sah den Taugenichts
auf dem Gehsteig. Er war betrunken. Die Splitter, die noch im Fensterrahmen
steckten, blinkten im Mondlicht. Mein Bruder, aus dem Schlaf aufgeschreckt,
klammerte sich an ihr fest und begann zu weinen. „Wenn du nicht sofort
verschwindest, hole ich meinen Vater“, sagte Mutter drohend. Doch der
Taugenichts wusste Bescheid. „Der ist ja beim Arbeiten. Und ich muss bei meiner
eigenen Frau einbrechen, schon praktisch, dass du im Parterre wohnst“, lallte
er. „Du kommst mir nicht ins Haus“, sagte Mutter, obwohl sie vor Angst
zitterte. Der Taugenichts war voll betrunken und gewaltbereit, aber sie hoffte,
er war nicht mehr reaktionsfähig. Rasch schloss sie die Fensterläden und
sinnloserweise auch das kaputte Fenster. Dann trug sie meinen Bruder nach oben
ins Schlafzimmer. Sie erklärte ihm, sie hätte das Fenster geschlossen und dabei
wäre die Scheibe zerbrochen. Bald war er wieder eingeschlafen.
Als sie nach unten kam, scharrte etwas an der Hauswand. Dann
flogen Steine gegen eines der Wohnzimmerfenster. Es war das Fenster, das an
einem dunklen Seitenweg lag. Hier konnte keiner ihrer Nachbarn sie hören und
bewohnte Gebäude waren nicht in der Nähe. Dort stand nun schwankend ihr
betrunkener Peiniger mit einem faustgroßen Stein in der Hand. Mutter fragte
sich, warum sie nicht alle Fensterläden geschlossen hatte, aber dazu hatte die
Zeit gefehlt. Einen Spaltbreit öffnete sie das Fenster, flehte ihren Mann an,
sie in Ruhe zu lassen. Die Kleine sei erkältet, er möge doch gehen. „Ich werde
diese Scheibe auch einschlagen, wenn du mich nicht hineinlässt“, drohte er.
Vielleicht kann ich mit ihm reden, schoss es ihr durch den Kopf. Bei dieser
Eiseskälte konnte sie keine eingeschlagene Fensterscheibe im einzigen beheizbaren
Zimmer riskieren. Sollte sie in die Küche ausweichen? Dort gab es einen
Gasbackofen. Die Küche lag auf derselben Ebene wie das Wohnzimmer. Ein Fenster
einzuschlagen, ohne dass jemand etwas hörte, wäre dort auch möglich gewesen.
Mutter saß in der Falle. Sie musste die Haustür öffnen.
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