Die Geschichte wurde in diesem Buch veröffentlicht:
Heidrun
Böhm
Die
Gedanken sind frei
Als dein Brief ankam, saß
ich im Garten. Ein Hauch von Frühling lag in der Luft. Der Himmel war samt
blau, Krokusse und Schneeglöckchen blühten. Mein Sohn hatte mir den Brief
zusammen mit einem Zweig Palmkätzchen auf den Tisch gelegt. Ich erinnerte mich daran,
dass der Frühling die Jahreszeit war, in der wir als junge Frauen zusammen
unsere schönsten Erlebnisse hatten. Wir kannten uns schon seit unserer Jugend.
Dann fiel mir ein, dass
du früher nie einen Brief geschrieben hattest. Wir hatten nur miteinander
telefoniert, seit damals das Unglück geschehen war. Und ich hatte dich seit der
Beerdigung deines Mannes nicht wieder gesehen. Ich war neugierig auf deine
Zeilen, machte mir eine Tasse Kaffee und öffnete den Brief. Ein heftiger
Windstoß, der unerwartet kam, riss in mir fast aus den Händen. Vielleicht hätte
ich das als Zeichen werten sollen, hätte den Brief wegwerfen sollen. Ein dicht beschriebenes
Blatt, das mit rosa Rosen verziert war, fiel mir entgegen. Auch dein
Schriftbild war anders geworden. Früher hieltest du nichts von Schnörkeln und
Verzierungen. Deine nüchterne Art, das Leben zu betrachten hatte mir gefallen.
„Meine liebe Freundin“,
hattest du als Anrede geschrieben. Das klang unpersönlich, entsprach ebenfalls
nicht dem Stil, den ich von dir kannte.
„Ich habe dir eine sehr erfreuliche Mitteilung zu machen, ich werde
wieder heiraten. Du bist herzlich dazu eingeladen. Die Hochzeit ist am 23 Mai
um 11 Uhr auf dem Standesamt in meiner Heimatstadt. Hoffe sehr, du wirst
kommen.“
Natürlich gönnte ich es
dir, du warst eine Frau, die einen Mann gerne umsorgte, und darin Erfüllung
fand. Nach dem Tod deines Mannes allerdings, schien diese Eigenschaft für
einige Zeit völlig verschwunden zu sein. Vermutlich war es der Schock über
seinen plötzlichen Tod gewesen. Nun hattest du dich wieder auf deine früheren
Werte besonnen. Ich las weiter: „Ein Geständnis muss ich dir aber in diesem
Zusammenhang noch machen: Ich werde Holger heiraten.“
Meine Hand begann zu
zittern. Der Kaffee schwappte über und hinterließ einen hässlichen braunen
Fleck auf den Worten: „Meine liebe Freundin.“ Du wolltest Holger heiraten, den
Schwerenöter, den zerknitterten Playboy, den Mann, der keiner Frau treu sein
konnte! Warst du von Sinnen? Du hattest doch die Wechseljahre hinter dir. Waren
wir beide nicht reife Frauen, die auf einen gewissen Erfahrungsschatz im Umgang
mit Männern zurückgreifen konnten? Warum hattest du, die nüchterne Frau, dich
in meinen früheren Mann verliebt? Wie hatte er dich dazu gebracht, ihn zu
heiraten? Nein, zu dieser Hochzeit würde ich nicht erscheinen. Warum sollte ich
mir das antun?
Ein kleiner Vogel setzte
sich neben meinen Stuhl ins Gras. Er zwitscherte und schlug mit den Flügeln.
Mein Sohn kam in den Garten. Auf seinem Gesicht war das erstarrte Lächeln, das
da immer war. Auch das Sprechen beherrschte er nur unvollkommen. Mein Sohn war
seit seiner Geburt geistig behindert. Er beugte sich über mich, und legte mir
noch einen Palmkätzchen Zweig auf den Tisch. Dabei gluckste er leise. Es war
seine Art, mir eine zu Freude machen. Zärtlich strich ich ihm über die Wange
und dankte ihm für das Palmkätzchen. „Geh noch ein bisschen fernsehen, Mama
muss nachdenken“, sagte ich zu ihm.
Wieder gluckste er und ging zurück ins Wohnzimmer. Er war leicht zufrieden zu
stellen. Aber er würde nie ohne Hilfe leben können. Er würde für immer bei mir
bleiben müssen. Bei mir, der Frau, die wegen ihres Sohnes nie mehr eine
Beziehung eingehen konnte.
Hatte ich dir nicht
geholfen, so gut ich konnte, nachdem du deinen Mann aus Versehen erschossen
hattest? Die Kugel hatte sich aus der Pistole gelöst, „einfach so“, hast du mir
damals erklärt. Ein unglücklicher Zufall. Das Schicksal wollte es. Gott wollte
es, oder wer auch immer. Manfred war auf jeden Fall tot, er hatte eine Kugel im
Kopf, als ich ihn zum Letzten Mal sah. Du warst mitten im Zimmer, hieltest die
Pistole in der zitternden Hand und starrtest auf seine Leiche. Wenn ich nicht
zufällig ins Zimmer gekommen wäre, hätte es niemand sofort bemerkt. Denn die
Pistole hatte einen Schalldämpfer auf dem Lauf.
Als der Verdacht sich
erhärtete, dass du Manfred erschossen hattest, war ich auf deiner Seite, habe
dich getröstet, über viele Stunden mit dir telefoniert und dir Mut
zugesprochen. Zuletzt konnte man dir nichts beweisen.
Warum wolltest du mich
einladen? Genügte es nicht, dass du mich über die Heirat informiertest? Wolltest du mich lächerlich machen? Was
dachtest du dir dabei?
Deine Ehe mit Manfred war
nicht besonders gut gewesen, ständig hattet ihr euch gestritten. Und nun
wolltest du auch den Vater meines Kindes ins Unglück stürzen!
Sicher hattest du deine
Gründe. Schließlich hatte Holger finanziell einiges zu bieten. Manfred hatte
dir nicht viel an Vermögen hinterlassen.
Ich wusste, dass du eine
Schlampe bist. Du warst nur auf das Geld aus. In armen Verhältnissen geboren,
aber eine schöne Fratze und einen gut geformten Körper. Das war doch alles, was
die Männer interessierte...die Äußerlichkeiten. Holger aber war ein
Schwerenöter, schon immer gewesen. Lange würde er es auch bei dir nicht
aushalten, und dann könnte ich ihm sagen, dass seine Frau ihren ersten Mann
getötet hat. Einfach so. Vielleicht würde Holger dann zu mir zurückkehren. Dann
würde er mir auch glauben, dass unser Sohn nicht von Manfred war. Diese eine
Nacht die ich mit Manfred verbracht habe, war doch nicht wichtig.
Der Brief flatterte im
Wind, ich musste ihn festhalten. Graue Regenwolken bildeten sich am Himmel.
Langsam klatschten dicke Tropfen auf den Tisch. Der schöne Frühlingstag war zu
Ende. Ich musste mich entscheiden.
Die Pistole lag schon
seit vielen Jahren in der Kommode im Keller. Ich musste nachsehen, ob sie noch
in Ordnung war. Aber das war kein Problem für mich. Ich konnte mit Waffen
umgehen und hatte mir die Pistole selbst besorgt, gleich nach der Geburt meines
Sohnes.
Langsam ging ich mit dem
Brief zurück ins Wohnzimmer. Mein Sohn saß im Sessel und glotzte blöde in den
Fernseher. Er konnte nicht anders.Ich ging zu meinem
Schreibtisch und holte das blütenweiße Briefpapier mit den blauen Vögelchen am
Rand, das ich nur für besondere Anlässe benutzte.
Dann setzte ich mich an den
Tisch und begann zu schreiben: Vielen Dank für deine Zeilen.
Natürlich komme
ich zu deiner Hochzeit. Ich kann es gar nicht erwarten!
Man darf sogar auf Instagram nichts posten, wo bleibt die Gleichberechtigung?
Man darf sogar auf Instagram nichts posten, wo bleibt die Gleichberechtigung?
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