Der
Überflieger
Wenn Hans Peter so
dastand, mit entrücktem Blick in eine unerreichbare Ferne starrte, sah er aus
wie ein verkrachter Philosoph dessen Gedanken in seinem Kopf keinen Platz mehr
hatten und allesamt versuchten, seinem etwas zu eng gewordenen Hirnstübchen zu
entfliehen. "Er hat einen Sparren", sagten
seine Verwandten und Bekannten. "Den triebt irgendwas um."
Immer hatte ihn
dieses Etwas veranlasst, krumme Wege zu gehen. Und wo andere auf ein Ziel
zusteuerten, fand er Kurven, wo keine waren. Es gelang ihm, über morastige
Pfade zu marschieren, und jedes Mal im Dreck stecken zu bleiben, um sich zu
fragen, wie er da hineingekommen sei.
Auf diese Weise
hatte er im Leben alles Mögliche angefangen, wieder fallen lassen, und war
Utopien hinterhergerannt, weil er nach Höherem strebte. Sein Beruf als
Rettungssanitäter hatte ihm den Lebensunterhalt gesichert. Aber was war das
schon? Damit lockte man keinen Hund hinter dem
Ofen hervor.
Angesehen war man erst, wenn man eine leitende Funktion hatte. Als er eine Frau
kennenlernte, leidlich hübsch, noch sehr jung und unerfahren, die an seine
Tüchtigkeit und Strebsamkeit glaubte, dachte er, das sei das Ei des Columbus.
Sie nahm es für bare Münze, dass man ihn in dem Krankenhaus, in dem er
arbeitete, vom Laborgehilfen zum Laborleiter befördern würde. Vielleicht würde
er tatsächlich einmal für diese Stelle vorgeschlagen werden. Wer wusste das
schon?
Die beiden heirateten.
Eine Zeit lang ging alles gut. Sie verzieh ihm, dass die Stelle des
Laborleiters ein anderer bekam. Man habe ihn schamlos ausgenutzt, behauptete
er. Er kündigte und suchte sich einen anderen Arbeitsplatz. Zwei Kinder kamen
zur Welt, die er sehr liebte. Um Ausdauer und Beständigkeit bemüht, wechselte
er seinen Arbeitsplatz nicht mehr so oft. Aber ach, sein Naturell ließ sich auf
Dauer nicht verleugnen. Dieses hoppla hopp des Alltags war nichts für ihn.
Keine Arbeit war gut genug. Die Vorgesetzten würdigten
seinen Einsatz nicht genügend. Oder er fühlte sich überfordert, oder die
Tätigkeit entsprach nicht seinem Können. Und dazu noch immer dieselbe Frau!
Einer wie er hielt das nicht durch! Zwei Arbeitsstellen und drei Freundinnen
später wurde es seiner Frau zu dumm. Sie warf ihn hinaus, und ließ sich
scheiden.
Und während sie sich
auf eigenen Füße stellte und sich und den Kindern ein annehmbares Leben zurecht
zimmerte, saß Hans Peter von Selbstmitleid zerfressen in Kneipen, und suchte
nach einem Ausweg.
Etwas Spektakuläres stellte er sich vor. Etwas wovon noch
lange die Rede sein würde. Etwas, was nicht jeder konnte, etwas womit er seinen
Frust abbauen und seiner Frau beweisen konnte, was an ihm für ein Kerl verloren
gegangen war. Damals arbeitete er als Hilfskoch in einem malerisch gelegenen Sportzentrum. Was lag näher als die umliegenden
Gipfel zu erklimmen, es den Einheimischen und Touristen gleichzutun, die in
zünftiger Kluft scharenweise die Hänge emporkrochen! Wandern war schon immer
seine Lieblingsbeschäftigung gewesen.
Gedacht, getan. Er erstand eine Bergsteigerausrüstung samt
Pickel, Seil und Nagelstiefeln. Dazu einen nach oben spitz zulaufenden
Lederhut, den man unterm Kinn mit einem Band festbinden konnte. Außerdem kaufte
er einen Riesenhund, der aussah wie ein vierbeiniger Geist. Ab diesem Zeitpunkt stiefelte er in seiner freien Zeit bei jedem
Wetter bergwärts. Rübezahl hätte in ihm sicher einen Doppelgänger gesehen.
Die
Einheimischen dagegen blickten ihm grinsend nach, und schüttelten die Köpfe. Seiner
neuen Freundin jedoch, die nie mit wanderte, weil sie zu dick war, imponierte
er mit seinem Gehabe ungemein. Sie war beeindruckt, wenn er sie nach seinem
Kampf mit den Elementen besuchte, das Wasser vom Hut und aus der Hose troff,
und er heldenhaft versuchte, das Zähneklappern zu unterdrücken. Mitfühlend zog
sie dem zukünftigen Sportarzt, als der er sich nun ausgab, die nassen Socken aus. Danach
verpflasterte sie die Blasen an den wund gelaufenen Füßen. „Welch ein Mann,
welche Wucht, welche Leidenschaft,“ seufzte sie dann innerlich. Danach holte
sie eiligst Schrubber und Putztuch, um den drecknassen Küchenboden trocken zu
reiben. So weit so gut. Doch es blieb nicht aus, dass er eines Tages die
Kraxelei satthatte.
Er sei doch kein Steinbock, der sein Leben lang von Felsnase
zu Felsnase und über Steinhaufen, die sinnlos herumlagen und die Wege
verstopften, hüpfen müsse sagte er zu seiner Freundin. Er habe, sagte er
freudig erregt, eine Idee, die er jetzt in die Tat umsetzen wollte, und deren
Verwirklichung möglich sei. Er brauche dazu zwei Wochen Urlaub, und sein
Chef habe ihm diesen genehmigt.
„Schön,“ sagte die Freundin und strahlte ihn an. „Wollen wir
verreisen?“ „Da wo ich hingehe, kann mir niemand folgen,“ sagte er theatralisch
und reckte selbstbewusst seine klapper dürren Glieder.
„Ich habe vor, nach Venedig zu laufen.“„ „Nach Venedig
laufen, du hast sie wohl nicht alle, „ Die Freundin tippte sich an die Stirn
und sah ihn mit großen Augen an. „Eine innere Stimme sagt mir, dass ich
das zu meiner Selbstverwirklichung tun muss,“ behauptete er pathetisch. Trotz
des Protestgeschreis der Freundin bepackte er den Bergrucksack mit diversen
notwendigen Gerätschaften, wetterfester Kleidung, wasserdichten Stiefeln und
einer Campingausrüstung. Zuletzt schnallte er einen Kochtopf auf das
unförmige Gebilde, stellte sich mit zufriedener Mine vor das
Riesending und sagte zu sich selbst:„Zu jeder Zeit zu allem bereit. Venedig,
ich komme!“ Stilgerecht verabschiedete er sich mit einem „Berg Heil“ Ruf. Die
Freundin brüllte ebenfalls „Berg Heil!“ Dann trabte er los. Drei lange Tage hörte man nichts von ihm. Die hinterbliebene Freundin
starrte zum vor Regenwolken überquellenden Himmel. Es regnete ununterbrochen,
und ein kalter Herbstwind fuhr in wütenden Stößen durch die Bäume. Endlich, am
Abend des dritten Tages klingelte das Telefon. Mit heiserer Stimme erklärte
Hans Peter seiner Freundin er sei mit zwei anderen Bergkameraden in einer
Hütte, um dort zu übernachten. Das Wandern, oder campen könne man bei diesem
Wetter vergessen. Sie würden am Tag darauf mit dem Bus weiterfahren. Weitere
sechsunddreißig Stunden vergingen, bis abends um dreiundzwanzig Uhr wieder das
Telefon klingelte. In kaum verständlichen Lauten, und mit von Dauerhusten-
unterbrochenen Seufzern krächzte, Hans Peter: „ Mir hat man beim Fahrkartenkauf
im Bushäuschen Kameras, Fotoapparate und den Geldbeutel aus dem Rucksack
gestohlen. Ich habe den Rucksack nur kurz unbeaufsichtigt gelassen, das hat
gereicht.“ „Ich habe versucht, mit der EC Karte Geld zu holen, aber es waren nur
noch 12 Euro auf meinem Konto. Jetzt sitze ich in einem Ort namens Hurzen oder
Furzen, bin triefnass, habe kein Geld, keine Bleibe und nichts zu essen.“ Die
beiden anderen haben sich am Geldautomaten bedient, und sind abgehauen. “
„Wo ist denn dieser Ort,“ fragte die Freundin entsetzt. „Im
Ötztal, brauche Hilfe,“ stöhnte Hans Peter. „Halt durch, wir kommen,“ schrie
die Freundin. Dann brach die Verbindung ab. Die Freundin reagierte
geistesgegenwärtig. So schnell, wie es ihre Körperfülle zuließ, rannte sie zur
Tür hinaus, und suchte nach Hilfe bei den anderen Hausbewohnern. „Der Hans
Peter!“ jammerte sie, und ließ sich auf den nächsten Stuhl plumpsen. „Ist er in
einen Bach gefallen?“ Fragte jemand teilnahmsvoll. „Nein, wir müssen ihn
retten, er erfriert und verhungert,“ heulte sie. Sofort sahen alle Anwesenden,
dass Not am Mann sei, im wahrsten Sinne des Wortes. Aufgeregt trafen sie die nötigen Vorbereitungen. Während die einen Wurst und
Käsebrote schmierten, füllten die anderen Thermoskannen mit heißem Kaffee und
packten Kleider zum Wechseln ein. Zusammen mit einer Flasche Obstler luden sie
alles in ein Auto, um ins Ötztal zu fahren. Die Uhr zeigte sechs Uhr, als das
Rettungskommando bei strömendem Regen aufbrach. Im Bregenzer Wald erreichte sie
noch ein Anruf.„Bis wann hier? Schnell machen, weiß nicht weiter, Akku
leer.“ Stöhnte Hans Peter. So belastet fuhr die Gesellschaft der Tiroler
Bergwelt entgegen. Ab und zu hielten sie an einem Rastplatz an, um den Fahrer
zu wechseln, während das Rettungskommando nervös auf Brötchen herumkaute, und Kaffee trank. Einer der Mitfahrenden war ein Ass im Ablesen
von Navigationsgeräten. Ihm verdankten sie es, dass sie nachmittags gegen
sechzehn Uhr ohne größere Schwierigkeiten im Ötztal im Ort Hurzen ankamen. Weil
es Spätherbst war, dunkelte es bereits. Wie aber sollte man jemand finden, von
dem man nur wusste, dass er hier irgendwo sein musste? Sie fuhren im Dorf
herum, vergeblich. Inzwischen war es stockdunkel und der Himmel öffnete wieder
seine Schleusen. Sintflutartig prasselte der Regen herunter. Zuletzt standen
sie ratlos auf dem Dorfplatz. Ein Bauer, der mit einer Ladung scheppernder
Milchkannen durch die nasse Finsternis holperte, kam vorbei.
Sie fragten ihn, ob er einen bis auf die Haut nassen
Wanderer mit einem Rucksack gesehen hatte, oder ob sie am Ende im falschen Ort
seien. „Gesehen habe ich niemand, „sagte der Mann freundlich.“ Aber es gibt
Ober und Unterhurzen. Bis Unterhurzen sind es von hier aus zehn Kilometer. „Fahren Sie durch den Tunnel,“ sagte er, und
deutete auf ein schwarzes Loch am Ende der Straße. Die Lage war jetzt wirklich
prekär. Voller Verzweiflung fuhren sie nochmals durchs Dorf. Dann sahen sie
ihn, er lehnte an einem überdachten Rundbau, der nach allen Seiten offen war.
„Der Hans Peter!“ schrie die Freundin und alle stürzten
hinaus, und auf das Häufchen Elend zu, das da am Pfosten lehnte. Sie zerrten
den geschwächten Ersatzötzi aus seinem Quartier und legten ihn im Auto auf
einen Sitz. Er war blau und grün gefroren und nass bis auf die Knochen. Man
musste ihm in der Enge des Fahrzeugs die nassen Kleider ausziehen
und die trockenen überstreifen. Dabei stellte sich heraus, dass die Freundin
vergessen hatte, andere Schuhe für ihn mitzunehmen. Aber man hatte ja nicht die
Absicht, über längere Zeit irgendwo auszusteigen, und im Fahrzeug war es warm.
Abwechselnd flößten sie dem erstarrten Kaffee und Obstler ein. Nach
vielstündiger Fahrt kamen sie total erschöpft zu Hause an. Sie legten den armen
Weltenbummler ins Bett und verabreichten ihm Lindenblütentee. Am nächsten Tag
holten sie den Hausarzt, der eine beginnende Lungenentzündung feststellte, und
ihn mit Medikamenten eindeckte.
Als er nach
längerer Zeit wieder aufstehen konnte, blieb es ihm angesichts seines leeren
Kontos nicht erspart, seiner Freundin zu beichten, dass er kein angehender
Sportarzt sei. Die Freundin gab ihm den Laufpass. Und ohne sich noch einmal
umzublicken, ist er aus ihrer Wohnung verschwunden. Aus der Gerüchteküche hörte
sie später, er plane eine Reise mit dem Fahrrad quer durch Russland bis zur
chinesischen Grenze.
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