Auszug aus meiner Biografie:
Ich war noch niemals in New York.
Der Zug, in den ich erwartungsvoll eingestiegen war, ratterte in gleichmäßigem Takt über die Schienen. Ich war nervös, denn ich hatte an diesem Wochenende einiges vor. In einer niveauvollen Frauenzeitschrift waren Frauen gesucht worden, die ihren Vater erst als Erwachsene kennengelernt hatten. Da ich zu diesen Frauen gehörte, schrieb ich an die angegebene Adresse. Bald darauf wurde ich von der Redaktion zu einem Fototermin mit meinem Vater nach Mainz gebeten.
Ich war sehr zufrieden mit mir.
Andere Leute reisten auf eigene Kosten. Ich ließ mir die Bahnfahrkarte von der
Redaktion einer Zeitung bezahlen.
Dennoch hatte ich ein unbehagliches
Gefühl in der Magengegend. Ich war nervös. Letzten Endes hatte ich noch nie einen
Fototermin mit einer Illustrierten gehabt.
Ich versuchte, mich entspannt in
meinem Sitz zurück zu lehnen, zupfte an meiner neuen schicken braunen Lederjacke
und schlug elegant die Beine übereinander.
Ein sehr gut gekleideter Mann, der
mir schräg gegenübersaß, fiel mir auf. Er steckte in Anzug und Weste, seine
Hose hatte tadellose Bügelfalten und auch sonst war er auf Hochglanz poliert.
Innerhalb kurzer Zeit ging er, immer mit einer Dose Haarspray bewaffnet,
dreimal zur Toilette. Seine ohnehin eng anliegenden blonden Locken bedurften
scheinbar einer besonderen Pflege. Danach setzte er sich auf seinen Platz und
schlug ebenfalls die Beine übereinander.
Seine blauen Augen hefteten sich an
mir fest. Mit langsamen, betont lässigen Bewegungen zog er ein Handy aus der
Westentasche. Dann musterte er mich
genau. Ich dagegen, sah demonstrativ zum
Fenster hinaus, um ihm mein Desinteresse an seiner Person zu zeigen.
Während grüngelbe Herbstwälder und rotweiße
Häuschen am Fenster vorbei flogen, und der Zug schneller fuhr, kam mir ein
Gedanke. Was wäre, wenn dieser Mann ein Fotograf, oder gar ein Redakteur war? Vielleicht war heute mein Glückstag
und ich wurde endlich als die Frau entdeckt, die ich in meinen geheimsten
Träumen war. Im Geiste sah ich mich als Glossen und Satireschreiberin in einer
bekannten Zeitschriftenredaktion. Und irgendwann durfte ich vielleicht in einer
Fernsehsendung auftreten. Als meine Werke zu einem Buch
zusammengefasst wurden, das selbstverständlich ein Bestseller war, hielt der
Zug an der nächsten Bahnstation. Mir gegenüber saß plötzlich der
Mann mit dem Handy. Ich zuckte erschrocken zusammen. „Entschuldigen Sie, ich
wollte Sie nicht ängstigen“, sagte er höflich. „Ich werde auch sofort wieder
gehen. Doch wenn Sie mir eine Frage beantworten könnten, wäre ich sehr
dankbar.“ So lässig wie möglich zog ich erneut meine Lederjacke zurecht und
zupfte meine Haare in irgendeine Richtung. Verdammt, warum hatte ich nicht noch
mal in den Spiegel gesehen! „Nun gut, wenn es Ihnen nützt“, antwortete ich mit
cooler Stimme.„Ach, es nützt mir sehr. Sie ahnen
nicht, wie es mir geht. Doch ich wusste nicht, ob ich es wagen sollte, Sie
anzusprechen, “ lamentierte er.
Ich dachte daran, dass ich diesen Zug in
dreißig Minuten verlassen musste, und sah mich schon mit einer
Versicherungspolice oder dem Abonnement für eine Zeitschrift aussteigen.
Der Mann umklammerte sein Handy. Seine
Hände zitterten. „Darf ich sie fragen, wie groß Sie sind?“ “Ungefähr ein Meter
sechzig, “ antwortete ich verblüfft. Er nickte bedächtig und musterte mich. War
er doch ein Fotograf? „Darf ich auch wissen, wie viel Sie wiegen?“
„Vierundfünfzig Kilo“, sagte ich großzügig. Zwei oder drei Kilo würden bestimmt
nicht ausschlaggebend sein.
Seine festgeklebten Haare stellten sich
langsam wieder auf. “Vierundfünfzig Kilo, “ wiederholte er dann. Seine
Mundwinkel fielen nach unten. Trotz meiner fantastischen Vorstellungen verlor
ich die Geduld. „Was wollen Sie von mir?“ fragte ich. Der Mann griff mit zitternden
Fingern in seine Brusttasche, zog einen zerknitterten Brief heraus und zeigte ihn
mir. Am Briefkopf war eine
Bekanntschaftsanzeige befestigt, auf der stand: „Glaubensschwester sucht
Glaubensbruder.“ Sein Gesichtsausdruck ähnelte dem eines Schafes, das seine
Herde verloren hat. “Ich bin der Bruder, welcher der
Schwester auf ihre Anzeige geantwortet hat, “ erklärte er. Das unangenehme
Gefühl in meiner Magengegend verwandelte sich in eine mühsam zurückgehaltene
Lachsalve. Ich blies die Backen auf und räusperte mich laut.
„Heute findet das erste Rendezvous
statt“, sagte er. Verständnis heuchelnd sah ich auf seine zitternden Hände.
„Und nun sind Sie sehr aufgeregt“, stellte ich fest.
„Habe die halbe Nacht nicht geschlafen. Ich
brauche wieder eine Frau, bin schon zwei Mal geschieden, dieses Mal muss es
klappen, " stammelte er.
Dabei kann ich Ihnen nicht helfen,
“ sagte ich. Aber der Mann hörte nicht auf mich, sondern fuhr mit seiner
Litanei fort.„Die Frau ist so groß wie Sie,
wiegt aber fünfundsechzig Kilo. Und sie hat mir am Telefon gesagt, sie habe
einen großen Busen. Meinen Sie, dass sie sehr dick ist? Außerdem hat sie eine
halbe Stunde lang mit mir telefoniert. Ist es möglich, dass sie das Geld nicht
zusammenhalten kann?“ bohrte er weiter. Die mühsam zurückgehaltene Lachsalve stieg
wieder auf, meine Augen tränten, ich suchte vergeblich nach einem Taschentuch.
„Ich hatte gehofft, sie sähe Ihnen ähnlich“, sagte der Mann mit
niedergeschlagenen Augen.„Frauen telefonieren gerne mal
länger. Außerdem sind zehn Kilo mehr, wenn sie richtig verteilt sind an einer
Frau nichts Nachteiliges, “ antwortete ich diplomatisch, ohne auf seine
vorherige Bemerkung einzugehen.
„Übrigens, was ist eine
Glaubensschwester?“ Da ich diesen Ausdruck noch nie gehört hatte, interessierte
es mich. „Wir gehen einmal die Woche zur Kirche, stehen also im Glauben“,
erklärte er. Sein Schafsblick wurde intensiver. Zögernd wiederholte er: „Ich
brauche eine Frau.“ Ich begriff nicht, was er wollte. Ich sah ich mich im
Geiste immer noch in der Redaktion der Frauenzeitschrift sitzen.
„Und deshalb wollte ich Sie fragen,
ob ich Sie anrufen darf, wenn es mit der Glaubensschwester nicht klappt.“ Er hob
sein Handy hoch, und in diesem Augenblick begriff ich, dass er sich meine
Telefonnummer speichern wollte. „Nein, das dürfen Sie nicht“,
antwortete ich energisch und schoss empörte Blicke auf seine blauen bittenden
Augen und die Bügelfalten ab. Als Ersatz für eine großbusige Glaubensschwester
war ich mir zu schade! Er starrte mich schweigend an. Seine
Haare standen wieder in allen Richtungen vom Kopf ab. Große Schweißperlen
standen auf seiner Stirn.
„Ich muss an der nächsten Station umsteigen“,
sagte ich, griff nach meiner Tasche und flüchtete auf die Toilette. Dort musterte
ich mich im Spiegel und lachte über mich selbst und den Glaubensbruder, so
lange, bis der Zug in Stuttgart angekommen war. Der Zug nach Mainz stand auf dem
Bahnsteig gegenüber. So schnell es ging suchte ich mir einen Platz darin, denn
der Glaubensbruder verfolgte mich und setzte sich in dasselbe Abteil, dieses
Mal aber hinter mich. Dort rutschte er wieder nervös auf seinem Sitz hin und
her, ging noch einige Male mit seinem Haarspraydöschen zur Toilette und
würdigte mich keines Blickes mehr. Schließlich hatte ich ihm eine Abfuhr
erteilt, wo er doch so dringend eine Frau brauchte. Kurz vor Mainz stieg er mit käsig
bleichem Gesicht aus dem Zug.
Ich werde nie erfahren, ob er die
richtige Glaubensschwester gefunden hat. Doch wenn sie nicht all zu viel wiegt,
nicht verschwenderisch ist und scharfe Bügelfalten machen kann, stehen die
Chancen für sie gut. Übrigens hat die Illustrierte den
Fototermin eingehalten. Mein Vater und ich wurden zwei lange Stunden durch eine
Parkanlage gejagt und abgelichtet. Trotzdem ist der Artikel nicht erschienen.
Man kann eben nicht alles haben. Aber dieser Tag wird mir immer in
Erinnerung bleiben. 😆😇
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