Montag, 29. Februar 2016

Elisabeth Zimmerer : Der Überflieger





Der Überflieger

Wenn Hans Peter so dastand, mit entrücktem Blick in eine unerreichbare Ferne starrte, sah er aus wie ein verkrachter Philosoph dessen Gedanken in seinem Kopf keinen Platz mehr hatten und allesamt versuchten, seinem etwas zu eng gewordenen Hirnstübchen zu entfliehen. "Er hat einen Sparren", sagten seine Verwandten und Bekannten. "Den triebt irgendwas um."

Immer hatte ihn dieses Etwas veranlasst, krumme Wege zu gehen. Und wo andere auf ein Ziel zusteuerten, fand er Kurven, wo keine waren. Es gelang ihm, über morastige Pfade zu marschieren, und jedes Mal im Dreck stecken zu bleiben, um sich zu fragen, wie er da hineingekommen sei.
Auf diese Weise hatte er im Leben alles Mögliche angefangen, wieder fallen lassen, und war Utopien hinterhergerannt, weil er nach Höherem strebte. Sein Beruf als Rettungssanitäter hatte ihm den Lebensunterhalt gesichert. Aber was war das schon? Damit lockte man keinen Hund hinter dem
Ofen hervor. Angesehen war man erst, wenn man eine leitende Funktion hatte. Als er eine Frau kennenlernte, leidlich hübsch, noch sehr jung und unerfahren, die an seine Tüchtigkeit und Strebsamkeit glaubte, dachte er, das sei das Ei des Columbus. Sie nahm es für bare Münze, dass man ihn in dem Krankenhaus, in dem er arbeitete, vom Laborgehilfen zum Laborleiter befördern würde. Vielleicht würde er tatsächlich einmal für diese Stelle vorgeschlagen werden. Wer wusste das schon?
Die beiden heirateten. Eine Zeit lang ging alles gut. Sie verzieh ihm, dass die Stelle des Laborleiters ein anderer bekam. Man habe ihn schamlos ausgenutzt, behauptete er. Er kündigte und suchte sich einen anderen Arbeitsplatz. Zwei Kinder kamen zur Welt, die er sehr liebte. Um Ausdauer und Beständigkeit bemüht, wechselte er seinen Arbeitsplatz nicht mehr so oft. Aber ach, sein Naturell ließ sich auf Dauer nicht verleugnen. Dieses hoppla hopp des Alltags war nichts für ihn.
Keine Arbeit war gut genug. Die Vorgesetzten würdigten seinen Einsatz nicht genügend. Oder er fühlte sich überfordert, oder die Tätigkeit entsprach nicht seinem Können. Und dazu noch immer dieselbe Frau! Einer wie er hielt das nicht durch! Zwei Arbeitsstellen und drei Freundinnen später wurde es seiner Frau zu dumm. Sie warf ihn hinaus, und ließ sich scheiden.

 Und während sie sich auf eigenen Füße stellte und sich und den Kindern ein annehmbares Leben zurecht zimmerte, saß Hans Peter von Selbstmitleid zerfressen in Kneipen, und suchte nach einem Ausweg.
Etwas Spektakuläres stellte er sich vor. Etwas wovon noch lange die Rede sein würde. Etwas, was nicht jeder konnte, etwas womit er seinen Frust abbauen und seiner Frau beweisen konnte, was an ihm für ein Kerl verloren gegangen war. Damals arbeitete er als Hilfskoch in einem malerisch gelegenen Sportzentrum. Was lag näher als die umliegenden Gipfel zu erklimmen, es den Einheimischen und Touristen gleichzutun, die in zünftiger Kluft scharenweise die Hänge emporkrochen! Wandern war schon immer seine Lieblingsbeschäftigung gewesen.
Gedacht, getan. Er erstand eine Bergsteigerausrüstung samt Pickel, Seil und Nagelstiefeln. Dazu einen nach oben spitz zulaufenden Lederhut, den man unterm Kinn mit einem Band festbinden konnte. Außerdem kaufte er einen Riesenhund, der aussah wie ein vierbeiniger Geist. Ab diesem Zeitpunkt stiefelte er in seiner freien Zeit bei jedem Wetter bergwärts. Rübezahl hätte in ihm sicher einen Doppelgänger gesehen. 
Die Einheimischen dagegen blickten ihm grinsend nach, und schüttelten die Köpfe. Seiner neuen Freundin jedoch, die nie mit wanderte, weil sie zu dick war, imponierte er mit seinem Gehabe ungemein. Sie war beeindruckt, wenn er sie nach seinem Kampf mit den Elementen besuchte, das Wasser vom Hut und aus der Hose troff, und er heldenhaft versuchte, das Zähneklappern zu unterdrücken. Mitfühlend zog sie dem zukünftigen Sportarzt, als der er sich nun ausgab, die nassen Socken aus. Danach verpflasterte sie die Blasen an den wund gelaufenen Füßen. „Welch ein Mann, welche Wucht, welche Leidenschaft,“ seufzte sie dann innerlich. Danach holte sie eiligst Schrubber und Putztuch, um den drecknassen Küchenboden trocken zu reiben. So weit so gut. Doch es blieb nicht aus, dass er eines Tages die Kraxelei satthatte.
Er sei doch kein Steinbock, der sein Leben lang von Felsnase zu Felsnase und über Steinhaufen, die sinnlos herumlagen und die Wege verstopften, hüpfen müsse sagte er zu seiner Freundin. Er habe, sagte er freudig erregt, eine Idee, die er jetzt in die Tat umsetzen wollte, und deren Verwirklichung möglich sei. Er brauche dazu zwei Wochen Urlaub, und sein Chef habe ihm diesen genehmigt.
„Schön,“ sagte die Freundin und strahlte ihn an. „Wollen wir verreisen?“ „Da wo ich hingehe, kann mir niemand folgen,“ sagte er theatralisch und reckte selbstbewusst seine klapper dürren Glieder.
„Ich habe vor, nach Venedig zu laufen.“„ „Nach Venedig laufen, du hast sie wohl nicht alle, „ Die Freundin tippte sich an die Stirn und sah ihn mit großen Augen an. „Eine innere Stimme sagt mir, dass ich das zu meiner Selbstverwirklichung tun muss,“ behauptete er pathetisch. Trotz des Protestgeschreis der Freundin bepackte er den Bergrucksack mit diversen notwendigen Gerätschaften, wetterfester Kleidung, wasserdichten Stiefeln und einer Campingausrüstung. Zuletzt schnallte er einen Kochtopf auf das
unförmige Gebilde, stellte sich mit zufriedener Mine vor das Riesending und sagte zu sich selbst:„Zu jeder Zeit zu allem bereit. Venedig, ich komme!“ Stilgerecht verabschiedete er sich mit einem „Berg Heil“ Ruf. Die Freundin brüllte ebenfalls „Berg Heil!“ Dann trabte er los. Drei lange Tage hörte man nichts von ihm. Die hinterbliebene Freundin starrte zum vor Regenwolken überquellenden Himmel. Es regnete ununterbrochen, und ein kalter Herbstwind fuhr in wütenden Stößen durch die Bäume. Endlich, am Abend des dritten Tages klingelte das Telefon. Mit heiserer Stimme erklärte Hans Peter seiner Freundin er sei mit zwei anderen Bergkameraden in einer Hütte, um dort zu übernachten. Das Wandern, oder campen könne man bei diesem Wetter vergessen. Sie würden am Tag darauf mit dem Bus weiterfahren. Weitere sechsunddreißig Stunden vergingen, bis abends um dreiundzwanzig Uhr wieder das Telefon klingelte. In kaum verständlichen Lauten, und mit von Dauerhusten- unterbrochenen Seufzern krächzte, Hans Peter: „ Mir hat man beim Fahrkartenkauf im Bushäuschen Kameras, Fotoapparate und den Geldbeutel aus dem Rucksack gestohlen. Ich habe den Rucksack nur kurz unbeaufsichtigt gelassen, das hat gereicht.“ „Ich habe versucht, mit der EC Karte Geld zu holen, aber es waren nur noch 12 Euro auf meinem Konto. Jetzt sitze ich in einem Ort namens Hurzen oder Furzen, bin triefnass, habe kein Geld, keine Bleibe und nichts zu essen.“ Die beiden anderen haben sich am Geldautomaten bedient, und sind abgehauen. “
„Wo ist denn dieser Ort,“ fragte die Freundin entsetzt. „Im Ötztal, brauche Hilfe,“ stöhnte Hans Peter. „Halt durch, wir kommen,“ schrie die Freundin. Dann brach die Verbindung ab. Die Freundin reagierte geistesgegenwärtig. So schnell, wie es ihre Körperfülle zuließ, rannte sie zur Tür hinaus, und suchte nach Hilfe bei den anderen Hausbewohnern. „Der Hans Peter!“ jammerte sie, und ließ sich auf den nächsten Stuhl plumpsen. „Ist er in einen Bach gefallen?“ Fragte jemand teilnahmsvoll. „Nein, wir müssen ihn retten, er erfriert und verhungert,“ heulte sie. Sofort sahen alle Anwesenden, dass Not am Mann sei, im wahrsten Sinne des Wortes. Aufgeregt trafen sie die nötigen Vorbereitungen. Während die einen Wurst und Käsebrote schmierten, füllten die anderen Thermoskannen mit heißem Kaffee und packten Kleider zum Wechseln ein. Zusammen mit einer Flasche Obstler luden sie alles in ein Auto, um ins Ötztal zu fahren. Die Uhr zeigte sechs Uhr, als das Rettungskommando bei strömendem Regen aufbrach. Im Bregenzer Wald erreichte sie noch ein Anruf.„Bis wann hier? Schnell machen, weiß nicht weiter, Akku leer.“ Stöhnte Hans Peter. So belastet fuhr die Gesellschaft der Tiroler Bergwelt entgegen. Ab und zu hielten sie an einem Rastplatz an, um den Fahrer zu wechseln, während das Rettungskommando nervös auf Brötchen herumkaute, und Kaffee trank. Einer der Mitfahrenden war ein Ass im Ablesen von Navigationsgeräten. Ihm verdankten sie es, dass sie nachmittags gegen sechzehn Uhr ohne größere Schwierigkeiten im Ötztal im Ort Hurzen ankamen. Weil es Spätherbst war, dunkelte es bereits. Wie aber sollte man jemand finden, von dem man nur wusste, dass er hier irgendwo sein musste? Sie fuhren im Dorf herum, vergeblich. Inzwischen war es stockdunkel und der Himmel öffnete wieder seine Schleusen. Sintflutartig prasselte der Regen herunter. Zuletzt standen sie ratlos auf dem Dorfplatz. Ein Bauer, der mit einer Ladung scheppernder Milchkannen durch die nasse Finsternis holperte, kam vorbei.
Sie fragten ihn, ob er einen bis auf die Haut nassen Wanderer mit einem Rucksack gesehen hatte, oder ob sie am Ende im falschen Ort seien. „Gesehen habe ich niemand, „sagte der Mann freundlich.“ Aber es gibt Ober und Unterhurzen. Bis Unterhurzen sind es von hier aus zehn Kilometer. „Fahren Sie durch den Tunnel,“ sagte er, und deutete auf ein schwarzes Loch am Ende der Straße. Die Lage war jetzt wirklich prekär. Voller Verzweiflung fuhren sie nochmals durchs Dorf. Dann sahen sie ihn, er lehnte an einem überdachten Rundbau, der nach allen Seiten offen war.
„Der Hans Peter!“ schrie die Freundin und alle stürzten hinaus, und auf das Häufchen Elend zu, das da am Pfosten lehnte. Sie zerrten den geschwächten Ersatzötzi aus seinem Quartier und legten ihn im Auto auf einen Sitz. Er war blau und grün gefroren und nass bis auf die Knochen. Man musste ihm in der Enge des Fahrzeugs die nassen Kleider ausziehen und die trockenen überstreifen. Dabei stellte sich heraus, dass die Freundin vergessen hatte, andere Schuhe für ihn mitzunehmen. Aber man hatte ja nicht die Absicht, über längere Zeit irgendwo auszusteigen, und im Fahrzeug war es warm. Abwechselnd flößten sie dem erstarrten Kaffee und Obstler ein. Nach vielstündiger Fahrt kamen sie total erschöpft zu Hause an. Sie legten den armen Weltenbummler ins Bett und verabreichten ihm Lindenblütentee. Am nächsten Tag holten sie den Hausarzt, der eine beginnende Lungenentzündung feststellte, und ihn mit Medikamenten eindeckte.
Als er nach längerer Zeit wieder aufstehen konnte, blieb es ihm angesichts seines leeren Kontos nicht erspart, seiner Freundin zu beichten, dass er kein angehender Sportarzt sei. Die Freundin gab ihm den Laufpass. Und ohne sich noch einmal umzublicken, ist er aus ihrer Wohnung verschwunden. Aus der Gerüchteküche hörte sie später, er plane eine Reise mit dem Fahrrad quer durch Russland bis zur chinesischen Grenze.


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